„Seelsorge ist eine Kunst, keine Methode“

  • Ekkehard Rüger
  • Aileen Völlger

„Braucht unsere Gesellschaft Seelsorge?“ – auf diese vorgegebene Frage für seinen Impulsvortrag zur 75. Landessynode der Evangelischen Kirche im Rheinland antwortet der Soziologe Prof. Clemens Albrecht provokant mit einer ersten These: „Unsere Gesellschaft braucht keine Seelsorge, sie hat die Therapie.“ Der Lehrstuhlinhaber für Kultursoziologie an der Universität Bonn führt die Neuregelung des Marktes der Psychotherapie durch das Psychotherapeutengesetz 2019 als ein Beispiel dafür an, dass funktional differenzierte Gesellschaften der Gegenwart auf den Ausbau der Sozialform „Therapie“ setzen.

Nicht der kaum fassbare Gesellschaftsbegriff, so der Soziologe zum Auftakt des zweiten Plenartags mit dem Schwerpunkt „Seelsorge“, sei aber für die Frage nach der Notwendigkeit von Seelsorge ein sinnvoller Bezugspunkt, sondern einzelne Menschen. Und diese bräuchten sehr wohl Seelsorge.

Seelsorge immer auch vom Gottesbezug geprägt

Denn im Gegensatz zur Therapie sei die Seelsorge ausgesprochen oder unausgesprochen immer auch vom Gottesbezug geprägt. Während Patientenkarrieren in der Therapie durch den Erwartungsdruck, doch endlich wieder „gesund“ zu werden, zu Stigmatisierungen führen könnten, sei Seelsorge mit einem Hoffnungshorizont verbunden, „der auf den Zustand der Erlösung verweist, ohne ihn zum Ergebnis einer Leistung zu machen“. Bei der Erfahrung menschlichen Leids jenseits der Kategorien „Gesund“ oder „Krank“ kann aus Sicht von Albrecht nur helfen, „wer selbst nicht in einer anderen Lage, aus einer gehobenen, professionellen Position heraus auf sie antwortet, sondern sie teilend begleitet“.

Lebenswelten müssen zueinander passen

Lebensbegleitende Seelsorge ist für den Soziologen gemeindegebunden: „Der therapierte Patient wird entlassen, der seelsorgerlich Betreute aufgenommen.“ Dabei sei auch wichtig, dass die Lebenswelten geteilt würden. „Viel zu oft aber passen in der Seelsorge die Lebenswelten nicht zueinander, indem das gutbehütete, in der Gemeinde groß gewordene Mittelschichtskind auf den Knacki trifft, dessen Sprache allein eine Herausforderung darstellt, geschweige denn die bewältigte und nicht bewältige Erfahrungswelt.“ Seelsorge benötige dabei Qualitäten, die über therapeutische Professionalität hinausreichten: Taktgefühl oder auch ein Gespür für das richtige Maß von Nähe und Distanz. „Seelsorge ist eine Kunst, keine Methode.“

17.1.2022