Pressemitteilung

Der „Müttermythos“ kann Kindern das Leben auch schwer machen

Klare Worte im Vortrag zum Hauptthema der Landessynode

  • Nr. 10 / 2007
  • 8.1.2007
  • 4703 Zeichen

Achtung, Sperrfrist 8. Januar 2008, 15.30 Uhr! Es gilt das gesprochene Wort!


Ein deutlicher Appell an die Kommunalpolitik stand heute Nachmittag im Mittelpunkt des Vortrags von Dr. Uta Meier-Gräwe, Professorin an der Universität Gießen, zum Hauptthema der Landessynode „Familie“. Sie forderte „ein klares Bekenntnis aller kommunalen Akteure zur Zielgruppe Familie“. Ob sich die nachwachsende Generation für Lebensentwürfe mit Kindern und damit für die Übernahme von „generativer Sorgearbeit“ entscheide, hänge maßgeblich von der Attraktivität der vorhandenen Arbeits- und Lebensbedingungen in ihrem unmittelbaren Umfeld ab, so die Soziologin.


Meier-Gräwe brachte die Problemlagen auf den Punkt: Vor Ort sei der zeitliche Bedarf an verlässlicher Betreuung erheblich gestiegen – zu Lasten der Frauen. Es mangele an der Synchronisation von Arbeitszeiten, Betreuungs- und Schulzeiten, Arzt- und Behördenterminen, Erledigungen zur täglichen Versorgung und Sport- und Freizeitaktivitäten. „Diese Situation erzeugt Zeitstress und ist Ausdruck der gesell-schaftlich nicht gelösten Vereinbarkeitsproblematik. Es sind meist Frauen, die diese Ungleichzeitigkeiten austarieren müssen,“ erläuterte die Wissenschaftlerin.


Arme Kinder: Zu viel an Familie, zu wenig an kindgerechten Angeboten


Woher kommt der „Gebärstreik“ der Frauen in Deutschland, gepaart mit einem „Zeugungsstreik“ der jüngeren Männergeneration? Die Professorin sieht die Ursache in einer „Familienideologie“ mit der These, dass es für das gedeihliche Aufwachsen eines Kindes am besten sei, wenn seine eigene Mutter eine Rund-um-Betreuung übernimmt, ergänzt durch den Besuch eines Halbtagskindergartens. Vor allem für Kinder in sozial schwachen Verhältnissen stellte sie fatale Folgen fest: „Die Privatisierung der Kinderfrage und der ausgeprägte westdeutsche Müttermythos haben gerade für Kinder aus benachteiligten Herkunftsverhältnissen und mit Migrationshintergrund oft ein Zuviel an Familie und ein Zuwenig an kindgerechten und familienergänzenden Betreuungs-, Bildungs- und Förderangeboten hervorgebracht.“


Ihre Forderungen: Armutspräventive Maßnahmen einer sensiblen Kinder- und Jugendarbeit von der gezielten Frühförderung über eine verlässliche Begleitung und Unterstützung dieser Kinder in der Schulzeit bis hin zu einem gelingenden Ausbildungsabschluss, vernetzt mit Angeboten aufsuchender Familienhilfe und Familienbildung für Eltern.


Die Schaffung einer kommunalen „familien- und personenbezogenen Dienst-leistungsinfrastruktur“ soll, so die Ökonomin, auch in arbeits- und sozialpolitische Strategien einfließen. Es ergäben sich daraus gleich drei positive Wirkungen: eine „Ermutigungsstrategie zum Leben mit Kindern für Akademikerinnen und Akademiker“, eine systematische und Folgekosten sparende Armutsprävention sowie „rationalisierungsresistente Beschäftigungschancen“ für unterschiedliche Qualifikations- und Berufsgruppen.


Deutliche Kritik äußerte die Referentin nicht nur an der bisherigen Familien- und Arbeitsmarktpolitik, sondern auch an einer einseitig auf die Vermittlung von Kompetenzen fixierten Pädagogik. Eine ausgewogene Pausen- und Mittags-verpflegung „am Lern- und Lebensort Schule“ stünde in ihrer Bedeutung der Vermittlung von notwendigen Kompetenzen wie Lesen, Schreiben und Rechnen keineswegs nach. Kinder seien in den Schulen stärker in den Prozess der Mahl-zeitenzubereitung einzubeziehen. „Der Tatbestand, dass heute bereits zwischen sieben und zehn Prozent der Kinder adipös (fettleibig) und weitere 25 bis 30 Prozent übergewichtig sind, zeigt den Ernst der Lage hinreichend an“, stellte Meier-Gräwe fest.


Angesichts des „Rückzugs der Männer aus der Familie“ forderte sie „Erfahrungs- und Lernfelder von fürsorglicher Praxis“ für Jungen und junge Männer: „Nur so lässt sich ein gesellschaftliches Leitbild umsetzen, dass Männer und Frauen für die Erwirtschaftung ihres Unterhalts durch eigene Erwerbsarbeit gleichermaßen verantwortlich macht wie für die anfallenden Fürsorgeverpflichtungen gegenüber Kindern, kranken und pflegebedürftigen Familienmitgliedern.“


Die Landessynode wird sich im Rahmen ihrer Tagung mit einem Positionspapier zum Thema Familiengerechtigkeit beschäftigen (Drucksache 2). Darin geht es um Forderungen, die nicht nur für die Gesellschaft formuliert werden, sondern die sich die Kirche selbstverpflichtend auferlegen will.