Pressemitteilung

Der Beschluss im Wortlaut

Außerordentliche Landessynode

  • Nr. Bitte beachten Sie: Der Beschluss der außerordentlichen Landessynode gilt vorbehaltlich der Feststellung durch die Kirchenleitung.
  • 4.9.2010
  • 16833 Zeichen

A


1.    Die Synode erinnert sich voller Dankbarkeit der Synodalen, die vor 400 Jahren in Duisburg zur ersten reformierten Generalsynode zusammen­kamen, um für das rechte Verständnis der Heiligen Schrift einzutreten und daraus Konsequenzen für den Weg der Kirche zu ziehen.


2.    Die Synode nimmt die Erinnerung zum Anlass, die Beschlüsse der Generalsynode 1610 zu würdigen, ihre Umsetzung in der Kirche von heute kritisch zu überprüfen und zu fragen, in welcher Weise ihre inhaltlichen Entscheidungen weiterzuführen sind. Deshalb nimmt sie die Impulse aus dem „Wegweiser Geschichte – Kritisch lernen aus der Tradition“ als Grundlage der weiteren Beratungen auf.


3.    Die Vertreter der Generalsynode 1610 reagierten auf die Notwendigkeiten der Gemeinden mit der Eablierung einer überregionalen kirchlichen Lebensordnung. Angesichts der Entwicklung der Mitgliederzahlen und der Finanzen sind heute alle kirchlichen Ebenen bis hin zur EKD zu neuen Modellen der Kooperation herausgefordert.


4.    Im Hinblick auf die zunehmend komplexen Anforderungen an das Leitungshandeln sind die presbyterial-synodale Ordnung und das diesbezügliche Bildungsangebot so fortzuentwickeln, dass die Gemeinde der Getauften ihr Recht auf Teilhabe am Leitungshandeln auch weiterhin wahrnehmen kann.


5.    Angesichts jahrhundertelanger Diskriminierung und Verfolgung religiöser Minderheiten würdigt die Synode die Religionsfreiheit, die im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland verankert ist. Ausgehend von dem bewährten Verhältnis von Kirche und Staat in der Bundesrepublik Deutschland ist angesichts der zunehmenden Vielfalt der Religionen das Verhältnis des weltanschaulich neutralen Staates zur Religionsfreiheit weiterführend zu diskutieren.


6.    Die kirchlichen Leitungsorgane aller Ebenen sind aufgerufen ,, sich weiterhin öffentlich für die Gewäh­rung des Menschenrechts auf Religionsfreiheit in allen Teilen der Welt einzusetzen. Das schließt das Eintreten für bedrängte Christinnen und Christen ein.


7.    Die kirchlichen Leitungsorgane aller Ebenen werden ermutigt, die öffentliche Debatte über das Verhältnis der Religionen zueinander weiter zu fördern. Dazu sind die Fragen nach Gemeinsamkeiten und Differenzen sowie das Verständnis von Toleranz und Mission aus evangelischer Perspektive weiter zu bearbeiten.


8.    Die kirchlichen Leitungsorgane aller Ebenen werden in ihren Bemühungen bestärkt, den interreligiösen Dialog zu einem Thema in der Aus-, Fort- und Weiterbildung von staatlichen und kirchlichen Religionslehrkräften sowie der theologischen und gemeindepädagogischen Aus-, Fort- und Weiterbildung zu machen.


9.    Das kirchliche Bildungswesen ist so fortzuentwickeln, dass Bildungseinrichtungen in kirchlicher Trägerschaft exemplarisch Bildungsgerechtigkeit gewährleisten. Dabei sind inklusive pädagogische Konzepte anzustreben, die eine differenzierte Förderung sicherstellen.



 


Wegweiser Geschichte – Kritisch lernen aus der Tradition


Vorwort


In Verantwortung vor ihrer Geschichte macht sich die Evangelische Kirche im Rheinland die Traditionen bewusst, in denen sie wurzelt. Die Brüder, die 1610 in Duisburg zur ersten reformierten Generalsynode zusammentraten, haben die Gelegenheit genutzt, die sich aus den konkreten politischen und gesellschaftlichen Möglichkeiten ergab, um zukunftsweisende Entscheidun­gen für den organisatorischen Aufbau zu treffen und Konsequenzen für das Leben der Kirche zu ziehen. Auch wir sind mit unserem kirchlichen Leben, mit unseren Entscheidungen in den aktuellen politischen und gesellschaftli­chen Kontext eingebunden. Dankbar nehmen wir die Impulse der ersten re­formierten Generalsynode zur presbyterial-synodalen Ordnung, zu Bildung und Konfessionsfreiheit auf, um sie für heute fruchtbar zu machen.


Gleichzeitig wissen wir, dass wir unsere Entscheidungen nicht ungebrochen aus der Tradition herleiten können. Dem Anspruch, dem kirchlichen Leiten und Handeln das gemeinsame Hören aller Getauften auf das Wort Gottes zu Grunde zu legen, ist unsere Kirche nicht immer gerecht geworden. Trotzdem hält die Evangelische Kirche im Rheinland an diesem Anspruch fest.


 


Zur Geschichte


1.    Der historische Kontext der Sondersynode


Vom 7. – 11. September 1610 traten 36 Pfarrer und Presbyter in der Duisburger Salvatorkirche zusammen, um als erste „Generalsynodi der gesamptem reformirten Kirchen in den drien Furstentumben Gulich, Cleve und Berge“ über die Zukunft ihrer Kirchen zu beraten. Das Herzogtum Jülich-Berg zählte im 16. und frühen 17. Jahrhundert zu den politisch wichtigsten Territorien im Heiligen römischen Reich und besaß nicht zuletzt wegen seiner geographischen Nähe zu den Kriegsschauplätzen in den Niederlanden und Belgien in Europa hohe Bedeutung.


Die Herzöge von Jülich-Berg bemühten sich um einen konfessionellen Ausgleich in ihrem Herrschaftsgebiet. Während es in vielen Gebieten Europas zu schweren Religionsverfolgungen kam, lebten hier Angehörige verschiedener Konfessionen meist friedlich miteinander.


Doch im Frühjahr 1609 starb der letzte Herzog von Jülich-Kleve-Mark, Johann Wilhelm, kinderlos. Um den durch die Gegenreformation bedrohten Kurs eines konfessionellen Miteinanders zu festigen sowie um der Einheit des Doppelherzogtums willen und um politischen Machtansprüchen des Kaisers wie auch der spa­nischen Habsburger zu begegnen, entschieden sich Brandenburg und Pfalz-Neuburg für eine gemeinsame Verwaltung des Doppelherzogtums. Die Stände von Kleve-Mark und Jülich-Berg versprachen im Juli 1609 den bei­den Regenten ihre Treue, im Gegenzug sicherten diese ihrerseits den Ständen Religionsfreiheit zu. Dieses Versprechen der Regenten nahmen die reformierten Gemeinden beim Wort: Am 17. August 1610 trat in Düren ein außerordentlicher Konvent zusammen, der für den September 1610 eine erste reformierte Generalsynode berief.


2.    Die Inhalte


Die Synode hielt grundlegende Rechte und Freiheiten für das Leben der Einzelnen und die christliche Gemeinde fest:


–      Christinnen und Christen sind in ihrem Gewissen frei, denn jedem getauften Menschen ist ein eigenständiger Zugang zu Gottes Gegenwart und „heilsame Wahrheit“ gegeben.-    Sie sind frei, das Wort Gottes zu hören und können darum Konfessionsfreiheit beanspruchen.


–      Sie haben das Recht, die Texte der heiligen Schrift zu lesen und darum das Recht auf Zugang zu Bildung.


–      Sie haben das Recht, an der Leitung der Kirche teilzuhaben.


Um dieser Freiheiten und Rechte willen wird die Gleichwertigkeit von Ämtern und Personen angestrebt.


3.    Die Entscheidungen


Die Generalsynode traf zahlreiche wichtige Entscheidungen:


Neben der Betonung der heiligen Schrift als „einzige Richtschnur ihres Glaubens und Lehre“ wurde der Heidelberger Katechismus als verbindliche Auslegung betrachtet (§ 4). Theologische Differenzen sollten gemeinschaftlich auf der Generalsynode behandelt und ausgeräumt werden (§ 4), deren regelmäßige Durchführung und Zusammensetzung aus Ältesten und Predigern (§ 9.4) beschlossen wurde. Ein besonderes Augenmerk wurde auf hohe pädagogische und theologische Kompetenzen von Lehrern und Predigern gelegt (§ 8), deren gute Ausbildung unverzichtbar für die bildungspolitischen Reformen war, die die Generalsynode anstieß. Insbesondere die flächendeckende Versorgung mit Primarschulen stellte ein ehrgeiziges Ziel der Synode dar: Die Pflicht einer jeden Gemeinde bestand in der Bestallung eines Schulmeisters, der die Aufgaben hatte, alle Kinder der Gemeinde regelmäßig anhand des Heidelberger Katechismus zu unterrichten (§ 8). Schließlich hielt die Synode ausdrücklich an der presbyterial-synodalen Leitungsform fest und beschloss ihre Einrichtung (§ 9). Dabei wurde von den Synodalen die Frage, ob diese gemeindliche Leitungsform für reformierte Gemeinden verbindliches Prinzip ist oder nicht doch eine Möglichkeit unter anderen Formen kirchlicher Leitung darstellt, offen gelassen.


Die Synode verstand ihre Beschlüsse als „Interim“, das bei geänderten politischen Verhältnissen zu redivieren sei. Die Tatsache, dass die synodalen Beschlüsse für 400 Jahre wirkmächtig gewesen sind, stellt ein historisches Paradoxon dar.


4.    Die Relevanz


Bis heute gilt für evangelische Kirche, im Gespräch eigene theologische Positionen deutlich zu benennen, zugleich aber die Religionsfreiheit anderer zu achten. Die notwendige Suche nach einem Grundkonsens in Glaubensfragen und die Forderung nach Religionsfreiheit schließen einander nicht aus, sondern bedingen einander.


Evangelische Kirche vermittelt Anstöße zum Dialog und Teilhabe auch im politischen Raum.


Die Evangelische Kirche im Rheinland geht den Weg zur Erneuerung des Verhältnisses von Christen und Juden weiter.


 


Presbyterial-synodale Ordnung


Ein Blick in die Geschichte zeigt:


Die theologische Voraussetzung der presbyterial-synodalen Ordnung liegt in der Überzeugung, dass das Wort Gottes aus sich heraus wirkt. Jedem getauften Menschen ist ein eigenständiger Zugang zu Gottes Gegenwart und „heilsame Wahrheit“ gegeben. Daraus folgt, dass auf allen Ebenen die Gemeinde der Getauften die reine Lehre des Evangeliums bewahren und das Leitungshandeln bestimmen soll.


 


Ein kritischer Blick in die Gegenwart zeigt:


Verschiedene Aspekte der presbyterial-synodalen Ordnung werden heute als problematisch erlebt:


–      Obwohl die presbyterial-synodale Ordnung Macht und Verantwortung transparent durch Wahlen delegiert und Entscheidungsprozesse unter der Teilhabe von vielen regelt, ist sie nicht frei von Missbrauch von Aufsicht, Verweigerung von Leitung und Misstrauen.


–      Obwohl in der presbyterial-synodalen Ordnung viele an Entscheidungsprozessen beteiligt werden, wird zunehmend empfunden, dass Richtungsentscheidungen nicht in synodalen Prozessen herbeigeführt, sondern nur noch von den Synodalen nachvollzogen werden.


–      Ehrenamtlich Mitarbeitende sind zunehmend überlastet. Motivation scheint zu schwinden. Es fehlen mehr und mehr geeignete Personen für Kandidaturen zu kirchlichen (Ehren-) Ämtern.


–      Die Balance der gemeinsamen presbyterialen und synodalen Leitung wird oft aufgelöst: einerseits zugunsten eines parochial-gemeindlichen Kirchenverständnisses, andererseits zugunsten eines konsistorialen Verständnisses.


–      Obwohl Frauen heute gleichberechtigt in alle Ämter gewählt werden können, sind sie in Leitungsämtern häufig immer noch unterrepräsentiert.


Aus unserer Sicht ist


die presbyterial-synodale Ordnung theologisch fundiert und sachgerecht. Um das presbyteriale System auszubalancieren, haben die Landessynoden der vergangenen Jahre die kreiskirchliche Ebene gestärkt.


Ein Gleichgewicht der unterschiedlichen Interessen hängt von gelungenen Kommunikationsprozessen ab. Das gemeinsame Ringen um den eingeschlagenen Weg muss dabei bestimmt bleiben vom Vertrauen auf die Wirksamkeit des Wortes Gottes, das alle Ebenen aneinander bindet. Sie können Vertrauen stärken und die Akzeptanz auch von schwierigen Entscheidungen erhöhen.


Kirche hat die Verantwortung, Menschen durch Bildung zum Leitungshandeln zu befähigen, damit die presbyterial-synodale Ordnung weiterhin gelebt werden kann.


 




Religionsfreiheit


Ein Blick in die Geschichte zeigt:


Im frühen 17. Jahrhundert ging die Auseinandersetzung in Jülich-Berg um die Gewährung der Konfessionsfreiheit. Sie machte die Synode erst möglich und wurde umgekehrt von ihr bekräftigt. Heute stellt sich demgegenüber die Frage nach der Religionsfreiheit.


Ein kritischer Blick in die Gegenwart zeigt:


Religionsfreiheit wird einerseits zunehmend als Freiheit von Religion erlebt, andererseits als Freiheit zur Ausübung einer frei gewählten Religion.


Die Balance zwischen positiver und negativer Religionsfreiheit, die der weltanschaulich neutrale Staat garantiert, gerät angesichts von Säkularisierung und der zunehmenden Vielfalt der Religionen ins Wanken.


Aus unserer Sicht ist


das Verhältnis des weltanschaulich neutralen Staates zur Religionsfreiheit neu zu diskutieren.


In einer Gesellschaft, die zunehmend die Freiheit von Religion betont, muss die öffentliche Relevanz von Religion plausibel gemacht werden.


Im Blick auf die Freiheit zur Religion ist zu klären., inwieweit im Verhältnis zum Staat für alle Religionen die gleichen Bedingungen gelten sollen. Es muss diskutiert werden, anhand welcher Kriterien eine Religionsgemeinschaft als solche anerkannt wird.


Im Verhältnis der Religionen zueinander müssen Fragen nach Gemeinsamkeiten und Differenzen, Toleranz und Mission öffentlich debattiert werden. Gesellschaftspolitische Perspektiven sind im interreligiösen Dialog zu entwerfen. Wir müssen neu lernen, öffentlich und öffentlichkeitswirksam über Glauben und Glaubensinhalte zu sprechen.


 


Bildungsgerechtigkeit


Ein Blick in die Geschichte zeigt:


In den Beschlüssen der Generalsynode 1610 ist nachhaltig das reformatorische Verständnis einer Bildung für alle bekräftigt und in praktische Entscheidungen umgesetzt worden. Damit wurden Anstöße für eine allgemeine Bildung für alle gegeben, die eine presbyterial-synodale Kirche erst ermöglicht hat und an der alle, auch die 1610 noch nicht erwähnten Mädchen und Frauen teilhaben.


 


Ein kritischer Blick in die Gegenwart zeigt:


Bildungsangebot und Bildungsbeteiligung haben erheblich zugenommen, aber der Zugang zu Bildung ist weitgehend immer noch von der sozialen, zum Teil auch kulturellen Herkunft abhängig.


Bei den Bildungschancen für Mädchen und Frauen gibt es gerade in jüngster Zeit erhebliche Fortschritte. Es zeigen sich aber zunehmend Chancendefizite bei Mehrfachbenachteiligungen insbesondere von Jungen und jüngeren Männern mit Migrationshintergrund, geringem Sozialstatus und mangelnder Sprachkompetenz.


Auch wenn in den Bundesländern, auf die sich das Gebiet der Evangelischen Kirche im Rheinland erstreckt, der Religionsunterricht aus verfassungsrechtlichen Gründen nicht gefährdet ist, ist zu beobachten, dass religiöse Bildung marginalisiert wird.


Besonders Besorgnis erregend sind Tendenzen zunehmender seelischer Armut bei Kindern und Jugendlichen. Sie hängen unter anderem mit der Kommerzialisierung der Freizeit und einem maßlosen Medienangebot und mangelnder Anleitung zum verantwortungsvollen Umgang damit zusammen.Aus unserer Sicht ist


es in einer Zeit gravierender struktureller wie finanzieller Veränderungen eine besondere Verantwortung, die Bildungsarbeit der Evangelischen Kirche im Rheinland auch in den eigenen Handlungsfeldern zukunftsfähig zu machen, also den Tageseinrichtungen für Kinder, den Einrichtungen der Jugendarbeit, der Konfirmandenarbeit, dem Religionsunterricht, den kirchlichen Schulen und Internaten, der Erwachsenen- und Familienbildung.


In der Tradition der Generalsynode beteiligt sich die Evangelische Kirche im Rheinland  an der Weiterentwicklung des Bildungssystems und an der Bewältigung aktueller Herausforderungen, insbesondere der immer noch nicht erreichten Bildungsgerechtigkeit und Inklusion von Menschen mit besonderem Förderbedarf. Zur Bildungsgerechtigkeit gehört die Chance junger Menschen, authentisch gelebtem Glauben evangelischer Prägung zu begegnen und sich selbst dafür zu entscheiden. Deshalb tritt die Landessynode für ein Bildungsverständnis ein, das Wissen und Können, Wertebewusstsein und Haltungen umfasst und das nicht einseitig an ökonomischer Zweckmäßigkeit ausgerichtet ist.


Religion stellt eine unverzichtbare Dimension der Bildungsarbeit dar. Mit ihr begleitet die Evangelische Kirche im Rheinland Menschen in allen Lebensphasen.